Bildungsgerechtigkeit

Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind eine gesellschaftliche Verpflichtung. Wird diese nicht wahrgenommen, so versagt unsere Gesellschaft.

„Kein Kind darf auf dem Weg ins Erwachsenwerden verloren gehen!“

(Zitat: Monika Stein)

 

Am 16. Juni 2021 hatte der Kinderschutzbund Freiburg die Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg, Frau Monika Stein, im Rahmen seiner Vortragsreihe „Kinder.Wissen“ als Expertin zum Thema Bildungsgerechtigkeit eingeladen.

Frau Stein ist die Landesvorsitzende der GEW  und setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass Kindern in Deutschland die bestmöglichen Chancen auf eine gute Bildung und damit auf späteren beruflichen Erfolg bekommen.

Kein Kind darf uns verloren gehen, sagt sie und beklagt, dass Deutschland kein Land der Bildungsgerechtigkeit sei. Andere Staaten, insbesondere Finnland, schaffen es wesentlich erfolgreicher, allen Kindern und Jugendlichen die gleichen Bildungschancen zu gewährleisten. Im europäischen Vergleich sei Deutschland in diesem Punkt im unteren Drittel angesiedelt.

So richtig zu verstehen, ist das nicht. Aber es ist spürbar. Ungefähr die Hälfte aller Eltern findet unser Bildungssystem ungerecht und dies nicht nur seit Pandemiezeiten.

Die „Baustellen“ in unserem Bildungssystem sind schon lange bekannt. Man kann das ruhig wörtlich nehmen: Immer wieder wird von Schülern und Eltern frustriert bis zornig darauf hingewiesen, dass Schulräume in einem schlechten Zustand sind, die Toiletten z.B. gar nicht mehr benutzt werden können.

Seit Jahren wird nicht ausreichend in die Infrastruktur von Kindertageseinrichtungen und Schulen investiert. In allen Bildungseinrichtungen ist das Personalkorsett sehr eng geschnürt. Es fehlt an  Fach- und Lehrkräften und diesen wiederum an der Zeit und der Kapazität, ihre eigentliche Aufgabe umzusetzen: nämlich individuell auf Kinder und Jugendliche einzugehen und ihnen Bildungsperspektiven zu eröffnen.

Eine Bildungskrise haben wir schon lange. Aus Angela Merkels Anliegen in ihrer ersten Amtsperiode: „ Wir müssen zu einer Bildungsrepublik werden!“  (Quelle: Erziehung und Wissenschaft 6/21) ist wohl nichts geworden. Es sieht eher so aus, als ob sich die Schere zwischen „reich und bildungsnah“ und „arm und bildungsfern“ weiter öffnet.

Die Pandemie der letzten zwei Jahre hat diese elementare Bildungskrise und die sich deutliche zeigende Bildungsungerechtigkeit nur verschärft.

Während man sich doch relativ rasch und intensiv um die Belange der Wirtschaft, um deren Stützung in einer Zeit zunehmender Beeinträchtigungen des Handels und den Gewinnausfällen Gedanken machte und mehr oder weniger effektive Überbrückungshilfen fand, gerieten die Kinder eher aus dem Blick. Sicher – aus nachvollziehbaren Gründen wurden Schulschließungen und digitale Unterrichtsformen entwickelt. Allerdings wirkten diese Bemühungen oft genug unorganisiert und wie plan- und hilflose Reaktionen auf die momentanen Krisen.

Corona hat offenbar gemacht, wie unzulänglich unsere Schulen für den digitalen Unterricht ausgestattet sind. Es ist dringend erforderlich, dass kurz- und langfristige Lösungen zur Bereitstellung von Computern und Laptops etc. gefunden werden. Genauso wichtig ist es, LehrerInnen systematisch und fächerübergreifend für das digitale Lernen auszubilden. Angesichts der neuen, sich verbreitenden Virusvariante könnte es erneut zu Schulschließungen kommen, wenn man sich nicht beizeiten, d.h. spätestens jetzt, um Vorkehrungen kümmert. Dazu könnten auch Luftreinigungsgeräte gehören.

Kinder aus sozial benachteiligten Familien und nicht nur diejenigen mit einem Migrationshintergrund, haben die doch recht lang anhaltenden Lockdowns besonders hart getroffen (s. dazu Allmendinger/Brandt in Erziehung und Wissenschaft 6/21). Sie verfügen seltener über einen eigenen Computer, oft wird er von mehreren Geschwistern genutzt, in Räumen, die ein ruhiges und konzentriertes Lernen nicht zulassen. Ihre Eltern wissen oft nicht, wie sie die Kinder unterstützen können, es fehlt ihnen an Zeit und der nötigen Kompetenz.

Frau Stein fand während ihres Vortrages deutliche Worte: „Schulen und Kitas, Kinder und Jugendliche wurden in Zeiten der Pandemie wenn nicht gar vergessen, dann zumindest sehr nach hinten gestellt, was damit zusammenhängen mag, dass sie einfach noch keine „Wählerstimmen“ darstellen.

Dazu passt, dass Jugendliche gemaßregelt wurden, wenn sie sich in Gruppen trafen, Demos von Erwachsenen (ohne Einhaltung der AHA-Regelungen) wurden toleriert. Ist es ein Wunder, dass Kinder und Jugendliche ihr Vertrauen in die Gesellschaft, in das politische System verlieren? Sie werden einmal Wähler sein.

Kinder und Jugendliche brauchen gesellschaftliche Priorität und Wertschätzung. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie wieder in den Blick geraten.“

Es wird befürchtet, dass die Schulschließungen dauerhafte Folgen für sehr viele Kinder haben werden, nicht nur, was Lernlücken angeht. Noch gibt es keine Zahlen dazu, doch man geht davon aus, dass ca. ¼ der Kinder „schulisch abgehängt“ wurden. Dazu kommen die enormen Belastungen, denen sie ausgesetzt sind: Die strenge Einschränkung der sozialen Kontakte, der verordnete Verzicht auf altersgemäße und notwendige Freizeitbeschäftigung, Sport und vieles andere.

Unser Bildungssystem ist in eine Schieflage geraten. Allmendinger und Brandt (Erziehung und Wissenschaft 06/21) betonen in ihrem Artikel “ Vorfahrt für Kinder“, dass die Schulschließung dauerhafte Folgen für die Kinder haben wird: „… für ihre Schul- und Berufslaufbahn, ihr Lebenseinkommen, ihre Gesundheit und Lebenserwartung“.

Sie fordern einen „Sicherungsboden nach unten“ ein, durch ein „Bildungs- und Teilhabegesetz sowie die sozialpädagogische Förderung im Ganztag und Leistungen nach dem Eingliederungsrecht“. Das führe nicht zwingend zu mehr Bildungsgerechtigkeit, könne jedoch jedem Kind die notwendige Bildung geben, „deren Bedeutung weit über die Erwerbstätigkeit hinausgeht: sie ermöglicht ihnen die Aussicht, gesund zu bleiben, mit etwas Zuversicht den Herausforderungen des Lebens zu begegnen und sich den Veränderungen unserer Gesellschaft nicht hilflos ausgeliefert zu fühlen“.

Das ist auch das, was der Kinderschutzbund erreichen möchte. Wir können die Welt nicht retten und wissen, dass es immer wieder Kinder geben wird, die keine glückliche Kindheit erleben werden. Doch sollte uns dies nicht daran hindern, so viel wie möglich dafür zu tun, um allen Kindern die bestmögliche Chance auf ein gelingendes Leben zu geben: Auf Bildung und damit auch auf späteren beruflichen Erfolg.

Frau Stein ruft uns auf, als Lobby der Kinder lauter zu werden, weiter daran zu arbeiten, dass Kinderrechte, ihre Teilhabe an dem, was sie angeht und Bildungsgerechtigkeit politisch verankert werden.

Der Weg dorthin geht über mehr Investition in Bildung:

  • Mehr und bessere Ausbildung von Fachkräften
  • Angemessenere Bezahlung von Fachkräften um Abwanderungen zu verhindern
  • Ermöglichung kleinerer Klassen-/Gruppengrößen
  • Anpassung und Verbesserung der Infrastruktur von Bildungseinrichtungen

Dazu brauche es:

  • Aufnahme des Themas Bildungsgerechtigkeit im Koalitionsvertrag des Landes/der Länder
  • Priorität von Bildungsgerechtigkeit (Umsetzungsvorschläge bisher unter dem Postulat der Finanzierbarkeit/Schuldenbremse)
  • Doppelbesetzung von inklusiv beschulten Klassen und sonderpädagogische Fachkräfte

An Bildung darf man nicht sparen. Die Folgekosten im Bereich Justiz und Soziales sind hoch.

Wenn Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungs- und Lebensweg Schwierigkeiten haben, dann ist das nicht allein ihrem individuellen Versagen zuzuschreiben.

Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind eine gesellschaftliche Verpflichtung. Wird diese nicht wahrgenommen, so versagt unsere Gesellschaft.

 

Helga Klier

 

Quellen:

  • Protikoll der Veranstaltung „Kinder.Wissen – Bildungsgerechtigkeit“, Referentin Frau Stein
  • Forschungsbericht aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Analyse Nr. 7: Bildungsgerechtigkeit in Deutschland
  • Erziehung und Wissenschaft, Allgemeine Deutsche Lehrerzeitschrift, 06/21 – Gastkommentar von Allmendinger und Brandt
  • Gleiche Bildungschancen für alle Kinder – iwd.de